Die Klanginsel

Ganz tief in einem dunklen, grünen Wald lebt zurückgezogen der Familienclan der Farnkinder. Auf den ersten Blick handelt es sich um ganz gewöhnliche Bewohner, die arbeiten, spielen, essen und schlafen, oft gesund und manchmal krank sind, ab und zu streiten, aber meistens gut füreinander sorgen. Doch wenn man genauer hinschaut, macht sie etwas besonders. Sie haben nämlich ein Geheimnis. Die Angehörigen des Clans kennen eine weit entfernte Insel, die voll ist mit Musikinstrumenten: Bratschen, Celli, Geigen, Orgeln, Klaviere, Blockflöten, Querflöten, Trompeten, Posaunen, Gitarren, Ukulelen, Pauken und Hang Drums. Sie wissen gar nicht, wie all diese Instrumente einst auf die Insel gekommen sind, denn für die Farnkinder jenes dunklen, grünen Waldes waren sie einfach schon immer da. Vielleicht war das für ihre Urgrosseltern oder deren Eltern oder Grosseltern schon so. Auf jeden Fall reisen sie jedes Jahr, nachdem der erste Schnee gekommen ist, an diesen faszinierenden Ort.

So also auch dieses Mal. Zunächst steht das grosse Packen an. Schliesslich werden sie eine ganze Weile weg sein. Sie müssen sich gut überlegen, was sie alles brauchen. Dann machen sie sich auf den Weg zum Meer. Das ist richtig anstrengend mit so viel Gepäck! Aber sie ertragen es geduldig, weil sie wissen, dass sie für ihre Mühen belohnt werden. So, wie es schon immer war.

Der Gedanke daran tröstet sie auch, wenn sie jeweils das Segelschiff betreten, das sie über das Meer zur Insel bringen wird. Denn eigentlich haben sie Angst vor dem tiefen Wasser und möglichen Stürmen. Die Tage auf dem Ozean verbringen sie singend, um ihre Furcht zu vertreiben. Und bei jedem Sonnenaufgang freuen sie sich mehr, da sie ihrer Musik ein Stück näher sind. Wenn sie die Bucht erreicht haben, denken sie schon an die vielen Zuhörer, denen sie am Ende ihres Aufenthalts ein Konzert geben werden, und das Glück ist in ihren Augen ganz deutlich zu sehen.

Doch diesmal ist etwas anders. Als sie auf der Insel anlegen, merken sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Mit klopfendem Herzen und einem mulmigen Gefühl erkunden sie die Insel. Sie können es nicht fassen, aber es ist wahr: Alle ihre Instrumente sind weg. Irgendjemand muss sie gestohlen haben. Traurig versammeln sich die Farnkinder am Strand und schauen zu, wie die Sonne im Meer untergeht. „Was machen wir jetzt?“, fragt einer. Die anderen zucken nur mit den Schultern. Niemand hat eine Antwort. Und niemand kann diese Nacht so richtig schlafen.

Am nächsten Morgen aber hat jemand eine Idee. „Was brauchen wir, um wie ein Vogel zu pfeifen oder klangvoll zu ploppen? Nichts als unsere Finger und den Mund! Gräser kann man zum Singen bringen. Wasser klingt anders, je nachdem, wie man es nutzt. Äste und Steine eignen sich als Klang- und Schlaghölzer. Sand und Kiesel könnte man für Rasseln verwenden. Und ich bin mir sicher, es gibt noch viel mehr. Warum machen wir nicht Musik mit dem, was uns zu Füssen liegt?“ Die anderen Clanmitglieder sind noch ein bisschen skeptisch, aber eigentlich haben sie gar keine andere Wahl. Denn einfach so heimkehren wollen sie auf gar keinen Fall.

Also suchen sie die ganze Insel zuerst nach allem ab, womit man Geräusche erzeugen kann. Beim Anblick dessen, was da zusammengekommen ist, sind die Farnkinder bereits viel zuversichtlicher. Da liegen improvisierte Trommelstöcke in den verschiedensten Grössen und Formen – sogar Astgabeln sind dabei. Miesmuscheln zieren nun den Strand. Das Schwemmgut liefert einen Plastikkanister und eine Eisenstange. Jemand hat Kokosnussschalen gefunden. Und die Aufzählung ist nicht annähernd komplett, die Liste wäre schlicht zu lang. Zuletzt zieht ein Angehöriger des Clans ein Stück Segeltuch aus dem Gebüsch, schaut sich ein wenig ratlos um und legt es dann doch zu den gesammelten Gegenständen – die anderen nicken zustimmend.

Mit all diesen Artefakten und Schätzen aus der Natur erkunden sie dann das Gebiet und probieren aus, wo man damit die besten und schönsten Klänge erzeugen kann. So werden Baumstämme zu Pauken und Xylophonen, Wasserrohre zu Tschinellen, aus Palmblättern entstehen Membranophone, und Pfeifen aller Art ertönen aus dem Dickicht. Nur so viel sei hier verraten: Die Möglichkeiten sind schier unerschöpflich.

An diesem Abend feiern die Farnkinder ein ausgelassenes Familienfest. Sie sind so froh, dass sie eine Lösung gefunden haben. Endlich können sie wieder lachen. Doch sie wissen auch, wie anstrengend die nächsten Tage werden. Denn sie müssen natürlich mehr üben als sonst, da alles neu und improvisiert ist. Und tatsächlich, je näher das Konzert rückt, desto mehr steigt die Nervosität.

Dann ist es endlich so weit. Alle haben Lampenfieber. Aber wie viele Menschen gekommen sind! Es hat sich herumgesprochen, dass das diesjährige Konzert besonders ist. Deshalb sind Besucher von überall her eingetroffen. Die Insel bietet kaum genug Platz. Sogar die Tiere, vom grössten bis zum kleinsten Lebewesen, zwängen sich unter die Zuhörer. Wie im Traum fangen die Musiker an. Als sie aufhören, gibt es einen Applaus, der lauter ist als alles, was sie bisher gehört haben. Sie haben gezeigt, dass man auch ohne Instrumente Musik machen kann. Von nun an wird diese Insel liebevoll Klanginsel genannt – und nicht nur von den Farnkinder des dunklen, grünen Waldes.

(c)2021 Anouk Wahl

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