Ein Ungeheuer wider Willen

Kliffo war ein eigenartiges Wesen. Ein hundeähnlicher Vierbeiner mit zotteligem Fell, so gross wie ein ausgewachsener Braunbär, mit Krallen wie ein Tiger, einer Mähne wie ein Löwe und der Kopfform eines Esels. Sein Schwanz war im Verhältnis etwas kurz geraten. Noch dazu schielte er und hatte abstehende Ohren.  

Das Eigenartige an ihm war seine ungebrochen gutmütige und wohlwollende Art, war er doch zeitlebens von allen verstossen und ausgelacht worden. 

Eines Morgens gegen Ende der kalten Jahreszeit brach auf dem Festland ein Vulkan aus. Die Menschen strömten zur Küste, verstauten das Nötigste in ihren Booten, lösten die Taue und segelten in Panik auf das offene Meer hinaus. Von den Tieren rettete sich, wer konnte. Unterwegs wurde Kliffo auf ein Gecko-Pärchen aufmerksam, dessen Terrarium zu Boden gerissen worden und zerborsten war. Um ihren sicheren Tod in der Kälte wissend, stellte er sich bewusst so hin, dass die Reptilien an ihm hochklettern konnten. Ein kurzes Stück entfernt kauerte ein junges Hauskätzchen zitternd im Hauseingang. Ihr klägliches Miauen wurde erhört. Gleich um die Ecke, beim Bäcker im Vorgarten, setzte ein Kaninchen zum Sprung an und landete direkt auf Kliffos Rücken. Keinem Bedürftigen wurde die Chance verwehrt – der Ratte nicht, dem Hahn nicht, ja nicht einmal dem alten Schafbock und dem Lama. Da es keinen Fluchtweg über Land gab, gesellten sich am sonst verlassenen Hafen noch diejenigen Streuner dazu, die weder fliegen noch schwimmen konnten: Ein obdachloser Kater, ein eigenwilliges Pfauenmännchen, ein Rabe mit gebrochenem Flügel und eine vierköpfige Igelfamilie, die jäh aus dem Winterschlaf gerissen worden war.

Kliffo knickte seine Vorderläufe und liess sich mitsamt seiner Last ins Wasser fallen. Er war ein guter und schneller Schwimmer. Bald holte er ein Kind ein, das mutterseelenallein am Rande der Erschöpfung ums Überleben kämpfte, und hob es mithilfe seines Schwanzes auf seinen Rücken. Das war der letzte Passagier, der aufgenommen wurde.  

Es war der Anfang einer langen Odyssee. Auf ihrer Reise einigten sich die Gefährten als erstes auf eine gemeinsame Sprache, was in der Not ganz natürlich geschah. Bald begannen das Hauskätzchen und der streunende Kater, sich gegenseitig zu mobben; der Pfau nervte alle mit seiner Sturheit; die Igel klagten über Hunger und Schlafmangel, schnarchten laut und gaben überhaupt viele irritierende Geräusche von sich; das zarthäutige Kaninchen wurde als faul beschimpft; der Rabe liess seine miese Laune an jedem Einzelnen aus; die Geckos beanspruchten stets das Beste für sich; der Schafbock machte anzügliche Sprüche; der Hahn krähte pausenlos Sprachübungen; die Ratte jammerte den anderen die Ohren voll; das Lama führte ellenlange Selbstgespräche; und das Menschenkind warf mit beleidigenden Ausdrücken um sich. 

Irgendwann wurde es selbst Kliffo zu bunt und er tauchte unvermittelt unter Wasser – lange genug, um allen einen gehörigen Schrecken einzujagen. „Hört endlich auf zu streiten!“, mahnte er. „Ich kann länger unter Wasser ausharren als ihr alle zusammen. Aber ihr müsst euch auf meine Kräfte verlassen. Keiner weiss, wie lange das hier noch dauern wird. Wir müssen zusammenhalten.“ 

Es dauerte nicht allzu lange, bis jeder seinen Platz gefunden hatte. So setzte sich der Rabe auf Kliffos Stirn, von wo aus er freie Sicht nach vorn hatte. Mit seiner Klugheit übernahm er die Rolle des Steuermanns. Im Haaransatz zwischen Kliffos Ohren nisteten sich die Igel ein. Jetzt, da ihre Fettreserven aufgebraucht waren, hielten sie mit ihren Fressattacken die Insekten von den anderen fern. Nachts konnte man sich auf ihre guten Riecher verlassen. Die Geckos waren regelrechte Akrobaten, denn mit ihren Haftlamellen, die wie Saugnäpfe an den Füssen waren, konnten sie ganz einfach auf Kliffos Nase herumtanzen. Auf seinem Rücken sassen der Widder und das Lama, zwischen ihnen der Hahn. Ganz hinten machte der Pfau den Abschlusss. Der Schafbock spendete nicht nur Wärme, sondern er spürte jeden Wetterumschwung. Ebenso reagierte der Blaue Pfau auf nahende Unwetter. Bei rauem Seegang half er mit seiner Schleppe rudern und steuern. Dank seines feinen Geruchs- und Gehörsinns war er ein guter Wächter. Das Lama beruhigte das ängstliche und von Heimweh geplagte Menschenkind. Jenes lenkte das depressive Kaninchen auf seinem Schoss ab und hielt den tödlich gelangweilten Hahn mit logischen Aufgaben beschäftigt. Der Hahn blühte auf und lernte schnell, sodass er bald zu dem Problemlöser wurde. Nebenbei verhinderte sein pünktliches Krähen dreimal am Tag, dass die Gefährten ihr Zeitgefühl verloren. Zu beiden Seiten des Kindes versuchten die Katzen, das Kaninchen aufzuheitern. Ihre ausgezeichnete räumliche Orientierung ersetzte den Kompass. Nicht zu vergessen die Ratte, die sich mal hier, mal dort befand. Sie war hilfsbereit, aber sie half besonders jenen, die ihr Gutes taten. 

Drohte eine Gefahr, stiess der Pfau einen durchdringenden Schrei aus. Dann warfen die Geckos sich augenblicklich in beeindruckende Pose, ihre Schwänze verschränkt; die Igel kugelten sich ein und bildeten einen Stachelkranz; der Schafbock zeigte seine bedrohlichen Hörner; der Hahn machte flatternd ohrenbetäubenden Radau; das Lama erhob sich und spuckte, Kopf im Nacken und Ohren zurückgelegt, eine Warnung in die Luft; der Pfau breitete seine Federkrone zum Rad aus; der Rabe setzte einen mörderisch funkelnden Blick auf; und das Kind rief: „Wer hat Angst vor dem Meeresungeheuer?“ Von Weitem sah das eingespielte Team dann tatsächlich aus wie eine Kreatur, und zwar wie ein gehörntes, mit Stacheln bestücktes, um sich speiendes, Flügel schlagendes Biest mit mehreren Köpfen. Raubfische, Seelöwen, Albatrosse und Zugvögel, aber auch Piraten und Fischer suchten zu Tode erschreckt das Weite.  

Die Menschen an Land hingegen verteidigten ihren Grund und Boden bis aufs Blut – wenn es sein musste mit einem Pfeil- oder Kugelhagel. Das Kind winkte jeweils vergebens und seine verzweifelten Rufe gingen erst recht im Tumult unter. Dabei hätte Kliffo nichts mehr gewollt, als endlich wieder Boden unter den Pfoten zu haben – und nichts weniger, als ein Ungeheuer zu sein. In seiner Heimat hatte er sich standhaft geweigert, boshaft und abschreckend zu sein, auch wenn ihm dies zu Würde und Respekt verholfen hätte. Aber nun galt es schlicht, als Stärkerer zu überleben. Zudem war Kliffo genaugenommen ja auch nicht selbst, geschweige denn allein, das Ungeheuer. 

Nun war der Moment gekommen, da sie einen Ausstieg aus dem Wasser trotz allem wagen mussten. Dem Kaninchen ging es nämlich sehr schlecht. Im Schutz der Nacht erhob Kliffo sich aus dem Meer und ging noch ein paar Schritte weiter – gerade aus der Reichweite der heranrollenden Wellen. Behutsam wurde das Fellknäuel in die Freiheit entlassen. Nach wenigen zögerlichen Sprüngen hoppelte es plötzlich zielstrebig in eine Richtung, so, als ob es Artgenossen erschnuppert hätte.  

Die anderen verharrten erschöpft in ihrer Position und schliefen sofort ein. Sie schliefen so tief, dass sie nicht bemerkten, wie Tierfänger mit List und viel Aufwand einen Käfig über sie stülpten, in dem sie sich im Morgengrauen wiederfanden. Für die Ratte, die Geckos, die Katzen, der Rabe und die Igel waren die Gitterstäbe allerdings kein Hindernis; sie schlüpften einfach zwischen ihnen ins Freie. Der Widder, das Lama, der Hahn und das Kind stellten sich an die vier Seitenwände. So blieb Kliffo als einziger in der Mitte. (Er hätte auch nicht aufstehen können mit seinen noch müden Beinen.)  

Vom Krähen des Hahns geweckt, kamen die Tierfänger näher, um die gefangene Bestie im Tageslicht zu begutachten. Wie überrascht sie waren von dem, was sie sahen! Vor allem erschraken sie sich über das Kind. Dessen Anblick liess die Männer sofort handeln und sie zogen mit vereinten Kräften und einem improvisierten Kran den Käfig hoch. Mit fragendem Blick wandten sie sich an das einzige menschliche Wesen dieser seltsamen Truppe. Und dieses erzählte allen, die es hören wollten (inzwischen hatte sich das ganze Dorf am Strand versammelt), die unglaubliche Geschichte.  

Ob die Bewohner und einheimischen Tiere jedes Detail glaubten oder nicht, sei dahingestellt. Tatsache aber war, dass keiner von ihnen je fragte, woher Kliffo kam und was für ein Wesen er war. Noch heute erinnert man sich dort vor allem an die Spuren, die das Meer an seinem Fell und zwischen den Krallen hinterlassen hatte und die von Aussergewöhnlichem berichten.  

Im Laufe der Zeit hatten die Gefährten ein neues Zuhause gefunden, aber sie vergassen Kliffo nie und besuchten ihn, wie man Freunde besucht. Auch das Kaninchen kam öfters vorbei und brachte ihm bei, unterirdische Gänge zu graben. Überhaupt war er in seinem neuen Umfeld in vielerlei Hinsicht sehr gefragt. 

Am Ende hatte Kliffo doch noch Freundschaft erfahren und für seine Einzigartigkeit Beachtung bekommen. Allerdings dürfte er sich gewundert haben, warum sich dafür zuerst eine Katastrophe hatte ereignen müssen. Und ob ihm dasselbe vergönnt gewesen wäre, hätte er nicht eine heldenhafte Tat vollbracht. 

Wenn er deswegen Gram mit sich herumtrug, hat er den mit ins Grab genommen. Deshalb kann ich auch nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Geschichte nun ein Happy End hat oder nicht.

(c)2021 Anouk Wahl

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