IYCK 2022 Herbstlager – Ein wilder Sturm der Begeisterung
Wenn man ihnen begegnet, sollte man sie höflich grüssen. Und danach das Augenmerk auf ihren Gesichtsausdruck richten. Schauen sie einen freundlich an, kann man erleichtert aufatmen. Zeigen sie eine grimmige Miene, sollte man sich dagegen schnellstmöglich aus dem Staub machen und die Höhle ohne viel Aufhebens verlassen.
Die Rede ist von den sagenumwobenen Bewohnern des Wildmannlislochs im Toggenburg. Wild sind die Geschichten, die sich um die bereits im frühen 18. Jahrhundert schriftlich erwähnte Höhle ranken. Auch für Wissenschaftler hat der unterirdische Ort einiges zu bieten – so wurden etwa Überreste von Knochen und Werkzeugen gefunden. Schliesslich ist es eine faszinierende Welt für grosse und kleine Abenteurer/-innen, die fernab von ihrem Alltag unter ungewohnten Bedingungen eine ihnen unbekannte Welt entdecken wollen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie die Gelegenheit dazu erhalten…
Das haben die Teilnehmer/-innen des Herbstferienlagers von chinder-lager.ch dank der Zusammenarbeit des Projektanbieters mit der Schweizerischen Gesellschaft für Höhlenforschung tatsächlich. Dadurch konnte im Rahmen des Internationalen Jahres von Höhlen und Karst 2021, das aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr bis 2022 verlängert wurde, ein Höhlenbesuch ins Lagerprogramm aufgenommen werden. Fachlich korrekt spricht man übrigens von einer Höhlenfahrt, auch wenn es sich um eine Erkundung zu Fuss handelt. Das kommt daher, dass einst die Minenarbeiter mit Loren auf Schienen tief in ein Bergwerk eindrangen, um das gewonnene Material ans Tageslicht zu befördern.
Der 13. Oktober 2022 war ein ganz normaler Lagertag, und trotzdem war eben alles ein bisschen anders als sonst. Auch nach all den Vorbereitungen am Vorabend gab es noch immer viel zu tun. Checklisten wurden abgearbeitet, nach dem Frühstück die Ämtli erledigt, Handschuhe verteilt und die Ausrüstung kontrolliert. Unterdessen waren die Experten eingetroffen, die von den Kindern mit Spannung begrüsst wurden. Es blieb keine Zeit zum Durchatmen, stattdessen ging es Schlag auf Schlag, bis schliesslich alle(s) transportbereit war(en).
Beim Ausgangspunkt für unsere Höhlenfahrt angekommen, war die Mischung aus vorfreudiger Aufregung und ängstlicher Nervosität beinahe greifbar. Sicherlich hatten die vielen neuen Eindrücke in so kurzer Zeit ihren Teil dazu beigetragen. Doch noch lauschten alle gebannt den Worten von Stephan Billeter, fast so, als würden diese Tür und Tor zur unterirdischen Welt öffnen.
Danach teilte die Gruppe sich auf. Während die einen – mit dem Ziel Wildmannlisloch – gleich losziehen konnten, mussten sich die anderen zunächst mit Klettergurten ausrüsten. Unterwegs zum Einstieg des Windlochs wurde auf einige Stellen hingewiesen, die zum selben Höhlensystem gehörten. Diese Beispiele zeigten auf eindrückliche Weise, dass ganze Labyrinthe im Innern des Berges dem Betrachter von aussen völlig verborgen bleiben. Selbst der eigentliche Zugang zur Höhle bettet sich ganz und gar unauffällig in die Landschaft. Weit offensichtlicher ist hier hingegen der Ursprung der Namensgebung: Aus dem Windloch pfeift der Wind, und zwar umso stärker, je heisser es draussen ist. Da es in der Höhle immer etwa gleich kalt (ca. 6-8 Grad) ist, strömt die Luft im Sommer nach draussen, um den Druckunterschied auszugleichen. Im tiefsten Winter ist es umgekehrt, der Wind wechselt dann also seine „Richtung“. Wenn die Aussentemperatur nahe an der Innentemperatur liegt, wie nun im Herbst, ist der Effekt kaum zu spüren.
Einer hinter dem anderen stieg hinab und suchte im Schein der Helmlampe Halt im Geröll. Ob die Verwunderung über den Schlafplatz eines Fuchses oder das Herzklopfen vor der ersten Hürde überwog? Immerhin war das Abseilen für viele Neuland. Die nachfolgenden Etappen stellten unterschiedliche Anforderungen: Kreativität und Eigenverantwortung; Anpassungsfähigkeit und Anspruchslosigkeit; Mut und Vertrauen. Galt im ersten Abschnitt noch die Devise, für sich selbst herauszufinden, welche Technik (ob kletternd oder sich duckend) am besten funktioniert, schränkte die Beschaffenheit im deutlich engeren zweiten Gang die Auswahl der Methoden ein und wartete mit der einen oder anderen unausweichlichen Pfütze auf. In der letzten Etappe gab es nur noch eine Möglichkeit des Hindurchkommens und unterwegs kein Zurück. Wer sich bis in jene hinterste Ecke vortastete, konnte in einigen Metern Höhe eine Wurzel erkennen, die an dieser Stelle in eine Felsspalte gewachsen war – wie um noch einmal zu verdeutlichen, wie nah sich die uns bekannte Welt und die unterirdischen Höhlensysteme doch eigentlich sind.
Die Mittagsrast bei Tageslicht war erfüllt von abenteuerlichen Erzählungen, begleitet von spürbarer Erleichterung. Ganz offensichtlich waren die Bewohner/-innen des Wildmannlislochs den heutigen Gästen gut gesinnt gewesen, denn sie gaben so manchen versteckten Winkel preis. Einmal in den Bann jener Mysterien gezogen, überkam die Kinder eine unbändige Neugier, die mit jedem Schritt wuchs. Sie wähnten sich auf grosser Expedition und sprachen vom Ehrgeiz, so weit vorzudringen wie noch nie jemand zuvor. Auf den Spuren der Pioniere der Vergangenheit trauten sie sich immer weiter hinein und entdeckten wirklich viel Einzigartiges. Dabei konnten sie sich relativ frei bewegen, mussten jedoch die eine oder andere wasserreiche Stelle queren. Zahlreiche Momente des Staunens (nicht nur ob der archäologischen Funde) werden ihnen wohl noch länger in Erinnerung bleiben. Auch rein äusserlich waren die Rückkehrer von dem Erlebnis gezeichnet: Lehm hatte sich an ihren Kleidern und in den Haaren festgesetzt. Viele der schlammverschmierten Gesichter strahlten vor Glück. Das ist auch kein Wunder, denn die Freiheit, ausnahmsweise mal schmutzig werden zu dürfen, wurde richtiggehend zelebriert. Und natürlich wurden diese Spuren nicht ohne Stolz zur Schau gestellt, erzählten sie doch ihre eigenen Geschichten von Abenteuer und körperlichem Einsatz.
Am Nachmittag hatten die Kinder die Gelegenheit, die jeweils andere Höhle zu befahren, was einige auch taten. Andere wiederum konnten von “ihrer” Höhle kaum genug bekommen, sei es, weil der Kick sie beflügelte oder weil wahrer Entdeckergeist keine Grenzen kennt.
Am Ende war der Höhlentag nicht nur ein herausragendes Erlebnis, sondern auch ein ganz individuelles Abenteuer für alle Teilnehmer/-innen. Dafür gebührt den Höhlenforscher/-innen der SGH und der Sektion Ostschweizerische Gesellschaft für Höhlenforschung, die uns begleitet haben, grössten Dank.